Die Tiere im Karate

1. Natur-philosophische Anschauungen

Kampfkunst steht als Sinnbild für Anmut, Kraft, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Weisheit.
Insofern, dass der Kampf, die gewollte oder erzwungene körperliche und psychische Auseinandersetzung, uns seit jeher als scheinbar universelles Phänomen der Menschheitsgeschichte begleitet, existierten zu allen Zeiten speziell stilisierte und kulturell verankerte Formen des Kampfes.

Die alten Chinesen begründeten ihre Konzepte der Gesundheitsgymnastik und des Kampfes bzw. der Selbstverteidigung unter anderem auf genaue Studien der Natur und auf ihre philosophisch-religiösen Anschauungen, welche als handlungsorientierte Lebensentwürfe tief ins gesellschaftliche Leben reichten.
Insbesondere aus der Beobachtung von den Tieren und der Elemente gewannen sie Einsichten und ersannen daraus Übungen, die mentale Kraft, Gesundheit und die Einheit von Körper und Geist schulen. Die alten Meister und Übenden waren nicht nur exzellente Kämpfer, sondern auch weise Philosophen, hohe Gelehrte und Lehrer und beschäftigten sich mit den Methoden des Heilens. Verbunden mit den Grundsätzen der chinesischen Moralphilosophie (> Konfuzianismus, Daoismus, Buddhismus) erfahren sich die chinesischen Kampfkünste als Lebensphilosophie. Als Meditation in Bewegung, als Geistesdisziplin und Gesundheitslehre sind sie Weg. Und hocheffektives Mittel in der Selbstverteidigung. Die chinesische Tradition alle Natur und auch den Menschen darin als miteinander verbundene Einheit zu betrachten, machen die Dinge in ihrem Wesen ganzheitlich erfahrbar. Hieraus ergaben sich Ansätze, die jeweiligen Aspekte in Philosophie, Lebensführung und Kampfschulung miteinander zu verknüpfen.

"Durch die Kraft der Natur
bist Du stark wie ein Drache.
Du atmest ein und aus, natürlich und still,
und spürst darin den Strom der Bewegung.

Bediene Dich der Kräfte des Alls
und mache dir deine Fähigkeiten zu Diensten.
In der Bewegung bist Du ein wütender Tiger,
in der Ruhe ein schlummernder Drache."

[Wang Xiang-Zhai, Gründer des inneren Quan-fa Stils Da-cheng-quan („Ruhmvolles Schattenboxen“) über die Essenz des Da-cheng-quan und des Zhan-zhuang (Qigong-Übung „Die stehende Säule“). Quelle: L. Werner, S. 126, 1999. Ein Beispiel für die Verknüpfung spiritueller Vorstellungswelten mit gymnastischer Gesundheitslehre und Naturerfahrung. Während die Qigong-Übung bzw. der Kampfstil als gesundheitliche Praxis dient, sind sie gleichzeitig auch meditative Übungen. In beiden Aspekten wird das Wesen von Naturerscheinungen rezipiert, wobei der Tiger in der Natur wirklich erfahrbar ist, der Drache wiederum nur in der geistigen Vorstellung existiert.]


2. Gesundheitsgymnastik und Kampfkunst

Die frühen Kampfformen waren wenig ausgefeilt und grob. Kraft war das entscheidende Kriterium. Die Frage, wie sich ein körperlich kleinerer und schwächerer Gegner erfolgreich verteidigen könne, suchten die alten Chinesen durch Beobachtung ihrer Umwelt zu beantworten. Denn es fiel auf, das die Natur große und kleine, starke und schwache Tiere gleichermaßen überleben ließ. Die Erkenntnis, dass die Tiere in ihren Bewegungsformen und Körperprinzipien eine instinktgeleitete Perfektion besaßen, mit welcher sie auf höchst effektive Weise Widerstände bewältigen und das dem Menschen solche instinktgebundenen Körperbedingungen fehlen, zog die Idee nach sich, die Tiere zu studieren und ihre Eigenschaften und Verhaltensweisen für den Menschen zu übernehmen.

Die verschiedenen Methoden der Heilgymnastik, welche in den Kampfkünsten zu kämpferischen Übungen adaptiert und weiterentwickelt wurden, gehen auf das daoistische Yoga zurück (Daoyin – „Ausdehnen und Zusammenpressen des Körpers“). Der Übungskomplex der Wuqinshu, auch Wuqinxi – „Kunst der 5 Tiere“ oder „Spiel der 5 Tiere“ ist das älteste bekannte und vollständig überlieferte System der Heilgymnastik, welches bereits im 2. Jahrtausend v.Chr. entstanden sein soll und in der Überlieferung eng mit dem Arzt Hua Tuo (190-265) verbunden ist. Durch Beobachtungen versuchte er die Grundlagenstruktur der Tierbewegungen zu erfassen, ihre Bioenergie zu verstehen. Zum Beispiel wie der Tiger sein Qi benutzt und wie es auf seine Handlungen wirkt.

3. Die Tierstile des Jiao Yuan

Die Mönche im Shaolin-Kloster schufen darauf aufbauend und in Verbindung mit anderen Systemen kämpferische Formen des Körpertrainings und der Selbstverteidigung, wobei der gesundheitliche Aspekt erhalten blieb. Der Legende nach leitete Bodhidharma um 520 mit seiner Ankunft im Shaolin-Kloster eine entscheidende Entwicklung ein. Aus den Shiba luohan shou – “18 Hände der Buddha-Schüler” wurde das Luohan quan, auch Arhat- Boxen oder Mönchs-Boxen genannt, entwickelt. Die Meister des Quanfa ergänzten die Kampfgewohnheiten einzelner Tiere in ein Schema taktischer und technischer Manöver, aus denen sich im 16. Jahrhundert die Tierstile und die Formen (> Dao, Kata) entwickelten. Bei allen Tierstilen folgte man der Idee der Vereinigung von Yin und Yang. Sie sollten die Methoden zur Steuerung des Qi bewusst machen.

Eine herausragende Rolle spielte dabei der Shaolin-Mönch Jiao Yuan. Er entwickelte das shaolinische Quanfa im 16. Jahrhundert zu 72 Nahkampfverfahren weiter, welche insbesondere auf schmerzhafte Gelenkmanipulation ausgerichtet waren. Gemeinsam mit Li Cheng, einem Meister in der „Kunst der wirksamen Berührung“ und Bai Yufeng schuf er ein neues Kampfkunstsystem, indem sie die Erkenntnisse der negativen Vitalpunktstimulation integrierten und die klassische Taktik und Technik der Kampfführung verbesserten. Hierfür griffen sie auf die traditionellen Tierkonzepte zurück und wählten die Stile des Tigers, des Drachen, des Leoparden, der Schlange und des Kranichs, zusammen in einen 170 Verfahren umfassenden Komplex. In der Folgezeit entwickelte sich eine Vielzahl von Tierstilen und auch in anderen Kampfkünsten finden sich viele Tier-Interpretationen. Früher zeigte man durch seine Stellung (> Gamae) denjenigen Stil, welchen man beherrschte und konnte sich so gegenseitig in den Stärken und Schwächen abschätzen.

Alle Kata gehen auf die Tierkonzepte zurück und alle Kata-Techniken können Tiere zugeordnet werden. Im Goju-Ryu ist die Kata Seiinchin die Kata, in der alle Tiere kämpfen. Mit diesem Wissen über die traditionellen Aspekte im modernen Karate-Do eröffnen sich dem einen oder anderen vielleicht neue Möglichkeiten der Betrachtung der Kata (> Bunkai Oyo) und regen auch zur Selbsterfahrung an. Darum sollen die Tiere nun im Einzelnen näher aufgezeigt werden. Jeder mag selbst entscheiden, welches Tier ihm zusagt oder von welchen Tieren er lernen mag. Allein die Eigenschaften eines Tieres zu beherrschen, führt in eine verwundbare Einseitigkeit. Eine Balance um den Schwerpunkt des Tieres anzustreben, dessen Wesen ich in mir trage, trägt den Keim für geistige und kämpferische Beweglichkeit und Vielfalt, die eine Kampfkunst ausmachen.

weiter mit den Tierstilen

- Romy Scharrer -